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Zentrum gegen Vertreibungen

Über 14 Millionen Deutsche waren zwischen 1944 und 1950 von Flucht und Vertreibung betroffen. Mehrere Hunderttausend wurden in Lager gesperrt oder mussten - teilweise jahrelang - Zwangsarbeit leisten. Die Anzahl der "Vertriebenen", deren Schicksal nicht geklärt werden konnte, betrug nach den beiden (im Auftrag des Deutschen Bundestages durchgeführten) Untersuchungen von 1958 und 1965 rund 2,1 Millionen. Mehrere Millionen Frauen aller Altersgruppen wurden vergewaltigt. Das gesamte private Eigentum der Ost- und Sudetendeutschen wurde entschädigungslos eingezogen, auch das öffentliche und kirchliche, deutsche Eigentum in diesen Gebieten wurde enteignet. Zu den 14 Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen kamen vor allem ab Ende der 1950er Jahre über vier Millionen deutsche oder deutschstämmige Aussiedler. (Nachzulesen in der Wikipedia, die ich hier fast wörtlich zitiere.)

Das, was 14 Millionen Deutschen widerfahren ist, muss, schon wegen der schieren Menge der Betroffenen, in der Geschichte bzw. dem Gedächtnis der Deutschen einen wichtigen Platz einnehmen. Tut es auch. Aber nach wie vor scheint es unmöglich, ruhig darüber zu reden. In letzter Zeit ging es um die Frage, ob der Bund der Vetriebenen ein "Zentrum gegen Vertreibungen" in Berlin planen darf? Und soll sich der Staat an den Kosten beteiligen?

Um dem Gedächtnis der Deutschen auf die Sprünge zu helfen, wurde eine Stiftung gegründet. Die Suche nach einem geeigneten Grundstück oder Gebäude ist im Gange. Ziel des Vorhabens, hinter dem der (verstorbene) SPD-Politiker Peter Glotz und die CDU-Politikerin Erika Steinbach stehen, soll sein: Vertreibungen als Mittel der Politik zu ächten. Man beachte den Plural: Vertreibungen. Es geht also nicht nur um die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten, sondern um alle Vertreibungen. Eine staatliche Beteiligung an diesem Vorhaben ist unwahrscheinlich, weil Befürworter und Gegner über die Parteien verstreut sind, wenn auch die Gegner vornehmlich bei den Linken zu finden sind.

Der Bund der Vetriebenen darf in Berlin ein "Zentrum gegen Vertreibungen" planen; kein Gesetz verbietet ihm das. Ich habe lange darüber nachgedacht und unterstütze die Gründung eines solchen Zentrums. Ich glaube kaum, dass ich deswegen ein Rechtsradikaler bin. Ich habe Rot-Grün gewählt, weil da meine Interessen am besten aufgehoben sind, aber meine Interessen, was ein solches "Zentrum gegen Vertreibungen" betrifft, lasse ich mir von niemandem vorschreiben. Immerhin gab es bei den Sozialdemokraten noch einen Peter Glotz, dessen Ansichten ich für ehrenwert halte. Und auch Erika Steinbach von der CDU halte ich für eine kluge Frau. Ich komme nicht auf den Gedanken, sie schon deswegen abzulehnen, weil sie bei der CDU ist. Es ist ein gewisses Vergnügen, ihre Aufsätze zu lesen. Für eine Fanatikerin halte ich sie jedenfalls nicht.

Ich möchte gar nicht auf alle Einwände eingehen, die gegen ein solches "Zentrum gegen Vertreibungen" vorgebracht werden. Ein eher harmloser Einwand ist der folgende: In einem solchen Museum steht unweigerlich die Vertreibung der Deutschen im Mittelpunkt. Die anderen Vertreibungen werden eine geringe Rolle spielen.

Nehmen wir einmal an, dass in diesem Dokumentationszentrum oder Museum (oder was immer es ist), die Vertreibung der Deutschen ein besonderes Gewicht bekommt, z. B. in Form einer Dauerausstellung. Ein Besucher, der zwei Stunden durch die Ausstellung geht, bekäme also ein umfassendes Bild über die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Vielleicht wäre er dann zu müde, sich noch um die anderen Vertreibungen zu kümmern. Nehmen wir also an, dieses Museum sei deutschlastig. Müsste man schon deswegen dagegen sein? Nein, müsste man nicht, denn in Deutschland ist ein deutschlastiges Museum erlaubt. Ich hätte geradezu Lust auf ein deutschlastiges Museum. Ich würde in dieses Museum gehen, um mich über deutsche Geschichte zu unterrichten. Ich habe die Wehrmachtsausstellung besucht; auch die war deutschlastig. Sie hatte ihren Schwerpunkt im gnadenlosen Vernichtungskrieg der deutschen Wehrmacht gegen die Völker im Osten. Ich möchte diese Ausstellung nicht missen, weil sie zur Wahrheitsfindung beigetragen hat. Mir wurde nach dem Besuch dieser Ausstellung erst richtig klar, in welchem Ausmaß der Krieg im Osten ein Vernichtungskrieg war.

Eine ähnliche Klarheit möchte ich über die Vertreibung der Deutschen gewinnen. Ich kann mir zwar genug Informationen aus dem Netz und aus Bibliotheken beschaffen, aber ich finde die Vertreibung wichtig genug, um ihr eine Dauerausstellung zu widmen: eine Ausstellung mit leibhaftigen Dokumenten, vielen Bildern und einem erkennbaren Konzept. So etwas hat eine andere Qualität als Schnipsel aus dem Netz oder Bücherstapel. Ich habe einmal einen original tschechischen Vertreibungszettel gesehen: "Bis 12 Uhr haben Sie das Haus zu verlassen, höchstens 30 kg Gepäck, der Schlüssel ist dort und dort abzuliefern, ..." oder so ähnlich. - Mich hat dieser Zettel mehr beeindruckt als eine theoretische Abhandlung über die Benesch-Dekrete.

Und diese Ausstellung soll keine Gedenk- oder Weihestätte sein, kein Gegenstück zum Mahnmal der Judenvernichtung, sondern ein Dokumentationszentrum. Wenn der Plan von Peter Glotz aufgeht, dann wird es auch so. Und es darf auch in Berlin stehen und muss nicht in einer Kleinstadt oder im Ausland errichtet werden.

Sechzig Jahre nach Kriegsende, sollte der Abstand groß genug sein, um die Wahrheit auszubreiten. Oder soll man noch vierzig Jahre warten, damit es hundert sind? Wir können uns sehr gut vorstellen, dass es ein Museum für die Zeit Napoleons gäbe, in dem umfassend und objektiv über Napoleon informiert wird, ohne dass Proteste aus Frankreich kämen. Ich meine, dass über die Vertreibung der Deutschen genauso objektiv informiert werden kann wie z. B. über Verwüstungen, die Napoleon hier und dort angerichtet hat. Das, was wahr ist, muss gesagt werden dürfen. Und der Vergleich bezieht sich nur darauf, dass es sich in beiden Fällen um historische Tatsachen handelt. In dem einen (gedachten) Fall scheint es überhaupt keine Schwierigkeit mit der historischen Wahrheit zu geben, im andern Fall scheinen sich Probleme aufzutürmen, ob die Wahrheit zumutbar ist. Und ich bin der Meinung: sie ist nicht nur zumutbar, sie muss zur Kenntnis genommen werden. Das ist eben das Wesen der Wahrheit.

Der Haupteinwand gegen das Museum gegen Vertreibungen ist folgender: Ein Besucher könnte ja die Schlussfolgerung ziehen: Die anderen waren auch "nicht besser" als die Deutschen. Nun wäre ein Museum, das den Besuchern eine solche Schlussfolgerung nahelegt, fehl am Platz. Es wäre dann ein Zentrum für Agitation und Propaganda. Ich vertraue den Stiftern, dass es das nicht wird. Aber ein Museum, in dem einem die Erkenntnis dämmert, dass aus Opfern Täter werden können, ist angesichts der historischen Tatsachen nicht zu vermeiden. Es ist menschlich allzumenschlich, dass aus Opfern Täter werden können. Und das verkleinert nicht die Schuld der Deutschen, die erst Täter waren und dann Opfer wurden.

Oder besteht der Haupteinwand darin, dass sich Polen und Tschechen beleidigt fühlen, vielleicht auch noch Ungarn, die Slowaken, alle Balkanstaaten und die Russen?

Zur Vorgeschichte der Vertreibung der Deutschen gehören die Nazigreuel, besonders in Polen. Ich möchte kein Museum, das diese Vorgeschichte auslässt. Es ist klar: die Opfer wären keine Täter geworden, wenn sie nicht vorher zu Opfern gemacht worden wären. Und es ist natürlich nicht so, dass damit Täter und Opfer gleichgesetzt sind. Es ist allerdings auch nicht so, dass jedes Opfer zwangsläufig zum Täter werden muss. Mir ist folgende Überlegung sehr wichtig: Die Vertreibungen waren keine "notwendige" Folge des Kriegs, sie hätten auch unterbleiben können.

Der Mann aus Ossetien, der beim Flugzeugabsturz am 1. Juli 2002 bei Überlingen seine ganze Familie verloren hat, und der den Fluglotsen in Zürich am 24. Februar 2004 erstochen hat, wurde vom Opfer zum Täter. Er wurde nicht notwendigerweise zum Täter, er hat sich dafür entschieden. Das Gericht hat ihn nicht freigesprochen, sondern zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. Ein Bericht über diesen Mord schmälert nicht die mörderische Fahrlässigkeit der Flugüberwachung. Ein Bericht über die Vertreibung der Deutschen mindert nicht die Schuld Nazideutschlands.

Ich verachte einen Staat, der nicht zu seiner Vergangenheit steht. Wieso können die Türken nicht zugeben, dass sie vor 90 Jahren einen Völkermord an den Armeniern begangen haben. Die Mörder sind längst tot. Das Blutbad, das einen Blutfleck am schönen Kleid der Nation hinterlassen hat, gab es also gar nicht? Was nicht sein durfte, konnte nicht sein? Ein solcher Unsinn soll aufhören, wenn es um die Wahrheit geht. Das Verbiegen der Wahrheit ist eine Todsünde!

Ich habe die Nase voll von falscher Geschichtsschreibung. Ich muss mir die Geschichte nicht von einem Goebbels, einem Stalin, einem DDR-Betonkopf oder einem fanatischen Türken erklären lassen. Ich brauche keine Geschichtsschreibung, die nur das als wahr betrachtet, was den mehr oder weniger perversen Zielen einer Partei dient. Und ich möchte mich auch nicht von einem Grünen, Gelben, Schwarzen oder Roten vorschreiben lassen, was ich mir anschauen darf und was nicht; ebenso wenig von einem Lech Kaczynski (Jahrgang 1949).

Ist bei Polen und Tschechen das gleiche Motiv wirksam wie bei den Türken? Ja nichts erwähnen, darstellen, ausstellen, was das makellose Kleid ihrer Nation befleckt? Wenn ja, ist es ein Motiv, auf das ich keine Rücksicht nehmen möchte. Die Wahrheit kümmert sich nicht darum, wem sie in den Kram passt und wem nicht. Und wer sich von der Wahrheit beleidigt fühlt, muss eben Ohren und Augen zumachen und sich damit trösten, dass die Deutschen im 20. Jahrhundert die unbestrittenen Weltmeister bei Kriegsverbrechen waren.

Mir ist ein solches Zentrum gegen die Vertreibungen erwünscht. Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten ist ein Ereignis von größter Bedeutung für die Geschichte der Deutschen. Sie hat die Weichen für die gesellschaftliche Entwicklung im Nachkriegsdeutschland gestellt. Und ich würde gerne eine Dauerausstellung besuchen, die sich mit der Vertreibung der Deutschen beschäftigt und mich umfassend informiert.

Ich möchte den Polen und Tschechen, sofern sie dieses Zentrum gegen Vertreibungen betreten, schlicht die Wahrheit über die Vertreibung zumuten. Ich glaube, dass die Wahrheit über das, was vor sechzig Jahren geschah, ausnahmslos jedem zugemutet werden kann. Der Abstand ist groß genug, Täter und Opfer, Täteropfer und Opfertäter sind in der Regel tot, noch Lebende, die dabei waren, sind steinalt. Die Vertreibung ist Geschichte. Zur Wahrheit über die Vertreibung sind wir verpflichtet. Ich möchte nichts Falsches darüber hören. Ich möchte umfassend unterrichtet werden. Ich möchte den Unsinn, dass am Unschuldskleid der Nation kein Makel kleben darf, nicht mehr hören! Was mir am liebsten wäre: Polen und Tschechen würden aus ihren Archiven Ausstellungsstücke beisteuern. Gemeinsam sind wir in Europa dabei, warum können wir nicht gemeinsam zur Wahrheitsfindung beitragen?

Aber vielleicht geht es gemeinsam wirklich erst in vierzig Jahren. Und weil ich in vierzig Jahren längst tot sein werde, möchte ich, dass dieses Zentrum gegen Vertreibungen jetzt errichtet wird.
Vertreibung der Deutschen aus dem Sudentenland
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Peter Glotz (SPD)
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Erika Steinbach (CDU)
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Potsdamer Konferenz 1945
Thomas Urban: Der Verlust. Bonn 2005

Das Buch gibt es bei der Bundeszentrale für politische Bildung in Bonn.

Werbetext:

Die Vertreibung der Deutschen aus Polen nach dem Zweiten Weltkrieg gilt vielen als Auslöser der Spannungen zwischen beiden Völkern, die auch heute noch nicht überwunden sind. Doch die Geschichte des wechselseitigen Unrechts und der gewaltsamen Aussiedlungen reicht viel weiter zurück: Schon Bismarck praktizierte eine antipolnische Siedlungspolitik. Ihr folgte die erzwungene Emigration zehntausender Deutscher aus Polen infolge der polnischen Staatsgründung nach dem Ersten Weltkrieg.

Ausführlich behandelt das Buch die deutsche Besetzung Polens und das brutale Vorgehen gegen polnische Staatsbürger sowie die ebenso völkerrechtswidrigen Vertreibungen der Deutschen aus Polen zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Die faktenorientierte Darstellung wirft die Frage nach Ausgleich, Aufarbeitung und Neuorientierung beider Völker im 21. Jahrhundert auf.

Briefwechsel mit Ernst Köhler

Ich habe diesen Aufsatz meinem Freund Ernst Köhler zu lesen gegeben und er schreibt dazu folgendes:

Lieber Günter,

die Vertreibung der Deutschen ist seit 1945 immer wieder thematisiert - privat, halbprivat, öffentlich. Die klassische Dokumentation (Th. Schieder) stammt aus den 50er Jahren. Die Deutschen haben sich von Anfang bis heute hauptsächlich für sich selbst und ihr Leid interessiert - wenn man von den wenigen Jahren der 68er Zeit absieht. Da wehte kurzfristig und störend einmal ein anderer Geist. Das Leid der Juden auf der anderen Seite ist erst in den späten 80er Jahren langsam entdeckt und wahrgenommen worden, ungeachtet allen offiziellen oder verstaatlichten Holocaust-Gedenkens. In Westdeutschland war das jedenfalls die Chronologie der Erinnerung, in der DDR mag es etwas anders gewesen. Vom Schicksal der baltischen Völker etwa weiß man hier bis heute so gut wie nichts. Auch von der Massendeportation der Tschetschenen weiß dieses tief humane Land so gut wie nichts. Bei der Vertreibung der Deutschen handelt es sich also keineswegs um ein Tabu, das nun endlich gebrochen werden sollte. Wir haben da nichts nachzuholen. Das ist eine Fehlwahrnehmung, die selber ein Teil des Problems ist.

Wie ernst es uns mit den Vertreibungen oder "ethnischen Säuberungen" als einem unmenschlichen Gewaltakt in Wahrheit ist, zeigt sich schlagend an unserem unüberwindlichen Desinteresse an den Jugoslawienkriegen. Bis auf den heutigen Tag kannst du immer wieder die gleiche, stumpfsinnige Ausflucht hören - gebetsmühlenartig: "Es ist zu kompliziert für mich." Es ist keineswegs zu kompliziert. Die grundlegende Unterscheidung zwischen den Angreifern und den Opfern liegt für jeden Menschen guten Willens klar zu Tage. Aber der gute Wille ist es eben, der fehlt.

Warum ich gegen die ganze Veranstaltung bin: In dem Berliner Zentrum wird das Schicksal der Deutschen dokumentiert werden - exklusiv dokumentiert werden. Das ist auch das Anliegen, der Sinn des Unternehmens. Die Berufung auf die Menschenrechte wird nur Mittel zum Zweck sein. Die Beschwörung der Menschenrechte ist heute überhaupt große Mode bei uns - nur kontextlos müssen sie sein. Das ist die Bedingung. Die Menschenrechte werden nicht verteidigt oder durchgesetzt, sondern wohlfeil beschworen. Zum Beispiel im Kosovo - wo man die Rechte der serbischen Minderheit besser sichern könnte, wenn man den Machtwahn Belgrads zerstörte.

Es geht bei diesem spektakulären Großprojekt in Berlin nicht um Aufklärung, sondern um eine Wende in der Erinnerungspolitik. Es handelt sich um ein Manöver, um eine Kampagne zur Umdeutung der Geschichte. Letztlich steht dahinter ein deutscher Nationalismus. Daß er ein bißchen Kreide gefressen hat, macht ihn nicht besser. Es macht ihn nur unkenntlicher. Das sehe ich im Prinzip genau so wie viele ältere polnische Intellektuelle, deren Urteilsvermögen ich entschieden mehr vertraue als dem von Peter Glotz.

Wer wir heute sind - wo wir den Verfolgten des 20. Jahrhunderts und denen von heute gegenüber heute stehen, mag dahingestellt bleiben. Ich weiß es nicht. Ich sollte es besser offen lassen. Ich fühle nur, daß es in Deutschland eine machtvolle Tendenz zum Sich-draus-halten gibt. Und daß sich diese verantwortungslose Haltung gegenüber dem, was irgendwoanders auf dem Globus mit Menschen gemacht wird, nicht selten auch noch als moralisch überlegen vorkommt - als eine hochentwickelte, noble Form von weltpolitischer Friedfertigkeit. In meiner katholischen Kindheit haben wir so etwas "pharisäerhaft" genannt. Nicht einmal die Entdeckung der Massengräber im Irak des soeben entmachteten Saddam Hussein scheint unsere edeldenkende antiamerikanische Öffentlichkeit im geringsten irritiert zu haben. Es ist nur eine dürftige Spur von Unbehagen geblieben: bevor man die USA denunziert, deutet man einleitend mechanisch an, daß man Saddam Hussein natürlich nicht nachtrauere. Das ist keine Position, sondern ein Trick. So immunisiert man sich gegen Einwände - auch die eigenen.

Aber die Frage, wer wir heute sind, hat für mich nicht das Geringste zu tun mit dem Gedanken, in Berlin ein "Zentrum gegen Vertreibungen" zu errichten. Das ist noch einmal ein Vorstoß, ein Kristallisationspunkt der ewig gestrigen, der revisionistischen Strömungen in Deutschland.

Ein solches "Zentrum" in Berlin - vom Drachenfels redet niemand - wäre keine persönliche Selbstaufklärung, sondern ein öffentliches Zeichen. Wieso fehlt diese Dimension in Deinem Text? Es wäre ein weiteres Mahnmal. Dann hätten wir deren zwei - wie schön: eines für die Deutschen zur Erinnerung an die von ihnen ermordeten Juden; eines für die Deutschen zur Erinnerung an die von den Polen und Tschechen vertriebenen Deutschen.

Die Wehrmachtsausstellung war nicht "deutschlastig" in dem Sinn, in dem ich das Wort verwende. Deutschlastig war vielmehr, daß es ein halbes Jahrhundert dauerte, bis sie zustande kam.

Polnische und tschechische Nationalisten sollten nicht unbedingt geschont werden - auch nicht die eher gemäßigten, die jetzt in Polen an die Macht gekommen sind. Aber das nach wie vor lebendige Mißtrauen dieser Völker den Deutschen gegenüber sollte respektiert werden. Es ist nämlich berechtigt. Ich teile es. Auch ich mißtraue der Bereitschaft der Deutschen, die Verantwortung für die deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg zu übernehmen.

Was wäre schon ein solches Zentrum? Welchen Nutzen könnte es schon stiften? Reichlich Schaden hat es hingegen bereits gestiftet. Man sollte endlich Ruhe geben an dieser Front.

Herzlich
Ernst



Lieber Ernst!

"Deutschlastig" war die Wehrmachtsausstellung schlicht in dem Sinn, dass nicht etwa die Rote Armee oder die Tito-Partisanen im Mittelpunkt standen.

Das Misstrauen von Tschechen und Polen gegenüber Deutschen ist nicht berechtigt. Inzwischen sind ja wir schon die Alten. Wenn ich meine Kinder anschaue; die haben mit der Vertreibung nichts am Hut und nichts unterm Hut. Meine jüngste Tochter hat eine polnische Freundin, meine älteste Tochter hatte eine Freundin, deren Vater Pole ist. Also was soll das ganze? Irgendwann muss man ja damit anfangen, historische Ereignisse als solche gelten zu lassen. Ich weiß auch wie die Tanten meiner Frau, die jetzt über 80 sind und die als junge Frauen vertrieben wurden, damit umgehen: sie sind nach Polen gefahren und haben den Leuten, die jetzt in ihren alten Häusern wohnen, Geschenke gebracht.

Der Nutzen, den ein solches Zentrum stiftet, ist analog dem Nutzen, den die Wehrmachtsausstellung gestiftet hat: Aufklärung. Ein Verbiegen der Geschichte wäre natürlich das Gegenteil von Aufklärung. Aber warum sollte in einem solchen Zentrum gelogen werden? Ich sehe diese Gefahr nicht. Es wäre auch unsinnig zu lügen, weil jede Lüge schnell aufgedeckt wäre.

Ein Mahnmal sollte ein solches Zentrum gerade nicht sein. Ich sehe auch nicht, so wie Glotz sich das vorstellt, dass es ein Mahnmal werden soll. Mich überzeugt das wirklich, was Glotz schreibt. Ich schick Dir diesen Artikel mit, auf den ich mich beziehe. Du kennst ihn ja wahrscheinlich.

Ich glaube doch, dass die Vertreibung der Deutschen bis zum heutigen Tag ein Tabu ist. Nicht, dass die Tatsachen nicht bekannt gemacht worden wären, sondern dass die einfache Überlegung, wer in diesem Fall Opfer war, nicht gestattet ist. Es hat sich zwar etwas gelockert: so gab 's im Spiegel eine Serie über die Vertreibung. Aber die Opfer-Täter-Frage hat man zur Beantwortung dem rechten Rand überlassen. Ich kann mich gut daran erinnern, was in der sogenannten National- und Soldatenzeitung in den 60er Jahren zu lesen war. Und in der DDR war das Wort "Vertreibung" verboten. Ich denke an dieses scheußliche, nach Desinfektionsmitteln riechende "Museum für deutsche Geschichte" in Ost-Berlin, das dem historischen Materialismus gewidmet war. Über die Vertreibung hat man da nichts erfahren, nicht einmal, dass sie mit "historischer Notwendigkeit" erfolgte.

Könnte es nicht sein, dass die Verdrängung der historischen Wahrheit im ehemaligen Jugoslawien genau den Krieg ermöglicht hat, den es dann gab? Warum gab es in Belgrad kein historisches Museum, in dem die Wahrheit an die Wand gehängt wurde? Vermutlich weil der Marschall und seine Parteikader vor der Wahrheit Angst hatten. Er hätte nicht nur über die Untaten der Ustascha, sondern auch über die Greueltaten seiner Partisanen berichten und auch sonst eine Menge unangenehmer historischer Tatsachen ausbreiten müssen. Wäre nicht eine objektive, umfangreiche Dokumentation dessen, was geschehen ist, die beste Grundlage für eine Versöhnung zwischen Kroaten und Serben gewesen? Stattdessen hatten beide Völker den Eindruck, dass die jeweils anderen die Wahrheit unterdrücken.

Eine Erklärung, warum sich die Deutschen seit 1945 im wesentlichen um eigenes Leid gekümmert haben, besteht vielleicht darin, dass jemand mit Gehirnerschütterung (weil ihm mächtig aufs Haupt geschlagen wurde), unfähig ist, an das Leid anderer zu denken. Aber ich meine, wir haben uns von dieser Gehirnerschütterung erholt. Warum sollten wir in einem "Zentrum gegen Vertreibungen" nicht dokumentieren dürfen, wie es zu dieser Gehirnerschütterung kam?

Und wenn das eine Wende in der Erinnerungspolitik ist: meinetwegen. "Erinnerungspolitik" ist ja schon ein merkwürdiges Wort: Mit Erinnerungen wird Politik gemacht. Es scheint dabei gar nicht darum zu gehen, ob die Erinnerungen zutreffend sind, sondern wie sie zur Verhaltenssteuerung eingesetzt werden können. Ich würde gerne für zutreffende Erinnerungen sorgen und im übrigen mein Verhalten selber steuern.

Vielleicht gibt es im Gedächtnis und bei den Gefühlen der Menschen doch so etwas wie "nationale Interessen". Ich habe nie verstanden, warum die Linke dafür blind ist. Und warum man diese Interessen nicht dadurch bedient, dass man sich der Wahrheit verpflichtet? Oder glaubst Du, dass die Ausbreitung der historischen Tatsachen einen Aufruf für einen Kreuzzug gen Osten nach sich zöge?

Du beklagst die zu geringe Anteilnahme der Deutschen am Balkankrieg. Ich erinnere mich an die Auseinandersetzungen um die Frage: Dürfen die Nachkommen von Brandstiftern in die Feuerwehr eintreten? Ehe die Frage mit Ja beantwortet wurde, hat es Jahre gedauert. Die Grünroten mussten über ihren sogenannten Schatten springen. Es gibt heute deutsche Feuerwehrleute (sprich: Soldaten) am Balkan. Und Deutschland hat von allen europäischen Ländern die größte Zahl an Kriegsflüchtlingen aufgenommen. Das mit der zu geringen Anteilnahme stimmt also nicht ganz.

Wer von uns beiden hat denn nun Recht? Du lehnst das "Zentrum gegen Vertreibungen" ab, ich bin dafür. Ich muss die Möglichkeit erwägen, dass Du Recht hast. Du hast dann Recht, wenn Deine Einschätzung dessen, was ist, der Wahrheit näher kommt. Wenn es noch zu viele Deutsche gibt, die die Kriegsschuld nicht anerkennen, den Massenmord an den Juden herunterspielen, wenn die Polen und Tschechen den Deutschen zu Recht mißtrauen, wenn die Errichtung eines solchen Zentrums den Gestrigen Auftrieb gibt. Dann wäre in der Tat ein solches Zentrum nutzlos.

Und wegen der Vertreibung werden wir uns nicht entzweien. Dann würde ich lieber die Vertreibung vertreiben. Wir treffen uns am Dienstag zum Mittagessen!

Herzlichen Gruß
Günter

Lieber Günter,

nehmen wir einmal an, die Absicht hinter dem geplanten "Zentrum gegen Vertreibungen" sei tatsächlich lauter. Und nicht so hoffnungslos verdorben und verlogen, wie ich es sehe. Nehmen wir ruhig einmal an, es gehe hier um Aufklärung und nichts als Aufklärung. Auch in diesem Fall müßte man die Idee fallen lassen, wenn sie auf breites Mißtrauen und Protest in Polen, in Tschechien, aber vielleicht auch in Westeuropa stieße. Es sei denn, man wolle unbedingt mit dem Kopf durch die Wand. Praktische Beweglichkeit, Suche nach anderen, für die anderen verträglicheren Möglichkeiten ist dem sturen, rechthaberischen Beharren auf dem einmal gefaßten Gedanken immer bei weitem vorzuziehen. Oder gibt es etwa keine Alternativen? Das massiv und anhaltend umstrittene Zentrum wäre nun einmal der Königsweg der historischen Wahrheit über die Vertreibung der Deutschen? Beschritten wir ihn nicht, kämen wir überhaupt nicht mehr voran? In Wirklichkeit gibt es tausend andere Wege.

Herzlichen Gruß
Ernst

Hier können Sie eine PDF-Datei (116 KB) herunterladen mit einem Aufsatz von Claudia Kraft: "Die aktuelle Diskussion über Flucht und Vertreibung in der polnischen Historiographie und Öffentlichkeit."
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Flüchtlingsschiff in Pillau
schlesische Flüchtlinge
Flüchtlingstreck über das Frische Haff
Der Schriftsteller Ralph Giordano befürwortet ein "Zentrum gegen Vertreibungen"
Der frühere polnische Außenminister Wladyslaw Bartoszewski lehnt ein "Zentrum gegen Vertreibungen" ab.
Joachim Gauck, Theologe und Bürgerrechtler, befürwortet ein "Zentrum gegen Vertreibungen"
Ernst Köhler, Schriftsteller und Balkanexperte, lehnt ein "Zentrum gegen Vertreibungen" ab.
Günter Posch, Rentner, befürwortet ein "Zentrum gegen Vertreibungen".
Erika Müller-Stumpf, Aktmodell, ist weder für noch gegen ein "Zentrum gegen Vertreibungen". Sie selbst wurde glücklicherweise noch nie vertrieben. Es gibt auch keinen vernünftigen Grund, sie zu vertreiben.
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