Elsässische Eindrücke

Um es vorweg zu sagen: Ich bin kein Elsaß-Kenner. Verlangen Sie von mir keine tiefgründigen politischen Analysen! In meiner Heidelberger Studentenzeit vor über 40 Jahren habe ich ein paar Ausflüge in das Elsaß gemacht, war in Straßburg und Sesenheim. Meinen 20. Geburtstag habe ich in Straßburg verbracht. Meine Eindrücke damals waren, dass chauvinistische Franzosen das deutschsprachige Elsaß belagern und unterdrücken. Alles musste französisch sein: die Geschäfte mit ihren Schildern, die Straßennamen, französisch verstümmelte Ortsnamen, die deutsche Sprache aus der Öffentlichkeit verbannt, nur französische Schulen, keine deutschsprachige Zeitung, kein deutschsprachiges Radio, die Trikolore auf der Turmspitze des Münsters in Straßburg als Zeichen des Triumphs. Der "Erbfeind" hatte gründlich zugeschlagen. Das alles erschien mir als eine Verletzung der Menschenrechte. Was ich damals nicht wußte: Die Elsässer waren damit zufrieden. – Heute ist Straßburg Sitz des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und ich frage mich: Gibt es Menschenrechtsverletzungen mit dem Einverständnis der Betroffenen? Antwort: Ja, bei Masochisten, und ein Masochist ist auch jemand, der sich widerstandslos oder freiwillig seine Muttersprache nehmen lässt. Die Elsässer sind offenbar solche Masochisten. Ein Poltiker könnte das nicht sagen, ohne dass er sofort weg vom Fenster wäre. Mich kann niemand von irgendeinem Fenster vertreiben. Und es ist mir nach wie vor rätselhaft, dass die französische Republik mit "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" kulturelle Gewalttätigkeit betreibt, auch in Korsika und im Baskenland. Die Muttersprache der Korsen ist eine mittelitalienische Mundart. Aber es gibt wohl keinen vernünftigen Italienisch-Unterricht in den Schulen; und Italienisch ist weder Amts- noch Verwaltungssprache in Korsika. Vielleicht steckt die (abwegige) Idee dahinter, Französisch sei eine höherwertige Sprache, allen anderen Sprachen überlegen, und Mundarten seien etwas Minderwertiges.

Nun war ich zwei Tage in Colmar, habe mir angesehen, was es da anzusehen gibt: die schöne Stadt, das Museum Unterlinden mit dem Isenheimer Altar, Bilder von Grünewald. Zu Hause habe ich einen Roman des elsässischen Schriftstellers André Weckmann gelesen: Wie die Würfel fallen. Morstadt-Verlag, Kehl-Straßburg-Basel 1981.

In Südfrankreich habe ich auf einem Campingplatz zwei Elsässer kennengelernt, die mir vom Elsaß erzählt haben. Was ich dabei erfahren habe: Die Elsässer sind nicht nur hundertprozentige Franzosen, sondern sogar tausendprozentige. Sie sprechen, sofern sie gebildete Leute sind, untereinander Französisch. Sie reden sich mit "Missjöh Mülläär" an (Betonung auf der letzten Silbe). Und was mich am meisten verblüfft hat: Sie behaupten fest und sicher: Elsässisch ist nicht Deutsch. Nein, Elsässisch ist kein allemannische Mundart! (Vielleicht mit dem Altfinnischen verwandt?) – Meine Frage, ob denn Schweizerdeutsch, Bairisch, Sächsisch, Plattdeutsch auch kein Deutsch wäre, blieb unbeantwortet. _– Unverrückbar die Behauptung: Elsässisch ist nicht Deutsch. Das sagte eine 60jährige, pensionierte Schuldirektorin. – Ein 75jähriger ehemaliger Mathematiklehrer, der in Straßburg studiert hatte, erklärte mir ungefragt: bei einer Abstimmung, ob das Elsass nach Deutschland solle, wären 99,9% der Elsässer dagegen. (Ich habe mir die Antwort verkniffen, dass wir sie auch gar nicht wollten.) Er hat für Frankreich in Algerien gekämpft. Im übrigen ist für ihn Deutschland ein vorbildlicher, gut geordneter Staat. In seinem Haus hat er Baumaterialien verwendet, die fast alle aus Deutschland stammen. Eine seiner Töchter ist in Frankfurt am Main verheiratet. Nein, deutsche Literatur liest er nicht, aber er spricht ein fehlerfreies Deutsch.

Nun ist überall nachzulesen, dass das "Elsaßditsch" auf dem Rückzug ist: nur noch von Älteren als Sprache zweiter Klasse gesprochen. In ein paar Jahren wird es verschwunden sein. Schade drum; waren es doch einmal etwa eine Million Leute mit deutscher Muttersprache. Aber da kommt nichts mehr, was für die deutsche Kulturnation von Belang wäre: keine Schauspieler, Sprechkünstler, Fernsehleute, Schriftsteller. André Weckmann ist 82 Jahre alt. Kennt jemand einen anderen deutschsprachigen Schriftsteller aus dem Elsass, der von Bedeutung wäre? Dabei wäre es doch gut möglich, dass die Elsässer zweisprachig wären. Ein unglaublicher Vorteil, der vertan wird. (Um mit Franz Beckenbauer zu sprechen: "Schaaße verspielt!")

Wahrscheinlich können wir uns, wie so oft, bei den Nazi-Trotteln bedanken: 1940-1945 Gewaltherrschaft in Elsaß-Lothringen. 1941 Errichtung des KZs Struthof. 145.000 Elsässer nach Frankreich ausgewiesen, 140.000 Elsässer zur Wehrmacht eingezogen, davon viele in Russland verheizt. – Nach dem Krieg wird abgerechnet. Deutsch wird zur Fremdsprache erklärt, das Dogma "Elsässisch ist nicht Deutsch" in die Köpfe gepaukt. Die Nazi-Verbrecher und ihre Millionen Mitläufer, denen sie ohne weiteres ins Gehirn scheißen konnten, haben der deutschen Kulturnation unermesslichen Schaden zugefügt.

Das ist der Stand der Dinge. Der Erbfeind ist gottseidank zum Erbfreund geworden. Ich spiele mit meinen französischen Enkelkindern und freue mich darüber, dass sie Deutsch sprechen und verstehen. Ich fühle mich in Frankreich wohl und mag die Franzosen. Ob ich gerne im Elsaß bin, weiß ich nicht so recht, weil ich mit der Nase auf etwas gestoßen werde, was man als "französischen Kulturimperialismus" bezeichnen kann .

Straßenschild der Scharküterie Zimmerlin in Colmar. Auch die folgenden Bilder: Colmar im Juni 2006.
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Wird dieser junge Mann in Colmar "Elsaßditsch" lernen? Vermutlich nicht.
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