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Ernst Köhler: Pathos gespickt mit Ironie
Über den Roman „Im geschlossenen Raum“ von István Eörsi

Wie es die Gedanken-Lyrik gibt und das Theater des Disputs, des Thesenstreits, so auch den Roman, der eigentlich ein Essay ist. Im geschlossenen Raum, das letzte, auf deutsch jetzt postum erschienene Buch des 2005 verstorbenen ungarischen Schriftstellers István Eörsi, ist ein solcher Roman. „Episoden einer Abhandlung“ nennt er es selbst einmal. Die Wirklichkeit, die er gedanklich zu durchdringen und von allen Seiten zu beleuchten versucht, ist der Poststalinismus in Ungarn – also die Jahrzehnte, die auf den von den Sowjets brutal niedergeschlagenen Aufstand von 1956 folgten und mit dem Namen Kádárs verbunden sind.

Für uns sind sie bereits Geschichte, für Ungarn selbst keineswegs. Für uns im Westen scheint alles schon Geschichte, was Ost-und Südosteuropa nach Jalta durchgemacht haben. Für Ungarn selbst und seine politische Öffentlichkeit ist die blutige Repression von 1956 mit ihren Massenhinrichtungen und ihren hunderttausenden von Flüchtlingen hingegen eine Vergangenheit, die nicht vergehen will. Budapest konnte sich im Oktober 2006 bekanntlich nicht einmal auf ein gemeinsames Gedenken an die jetzt 50 Jahre zurückliegenden Ereignisse einigen. Das Land ist über seine Erinnerung, über seine Erinnerungspolitik so erbittert gespalten, wie es wohl nicht einmal Polen ist.

Es gibt für den irritierten, aus seinem säuberlich halbierten Geschichtsbild aufgeschreckten Westeuropäer vermutlich keinen besseren Zugang zu diesem Klima des Traumas, des Hasses und der Feindschaft als den schmalen Essayband „Der rätselhafte Charme der Freiheit. Versuche über das Neinsagen“ (2003), ebenfalls von István Eörsi. Der Autor, nach dem gescheiterten Revolutionsversuch selbst für vier Jahre im Gefängnis – als Kommunist unter dem Kommunismus, legt hier mit gnadenloser Klarheit dar, wie es in der „lustigsten Baracke des Ostblocks“ – so eine typische Schönfärberei unseres damaligen politischen Wortschatzes – in Wahrheit zuging. Der hierzulande mit jovialem Wohlwollen bedachte „Gulaschkommunismus“ war danach ein erstickendes Bestechungssystem, dem sich nahezu die gesamte Intelligenz Ungarns widerstandslos und über tausend faule Rechtfertigungen eingefügt hat.

Das heutige Ungarn und seine politische Unkultur lassen sich nur vor dem Hintergrund dieser niemals eingestandenen Selbstkorrumpierung seiner Eliten, auch der künstlerischen, verstehen. Man wirft sich heute gegenseitig Versagen vor – in diffamierender Absicht. Hinzu kommt das nationalistische, rassistische, antisemitische Gedankengut der Horthy-Ära davor, das in der gesamten roten Epoche unbearbeitet blieb und völlig intakt zu überwintern vermochte.

Man kann auch das jetzt vorliegende Werk des politischen Moralisten der ungarischen Gegenwartsliteratur als den Versuch lesen, diese dunkle, schmutzige Wirklichkeit für die Welt, die westliche Welt vor allem, zu „retten“: sie dem Vergessen, aber auch der Verwandlung in verstaubte Geschichte zu entziehen. Und das ist hier, wie man sehr bald merkt, etwas ganz anderes als einen sowieso schon triumphierenden Westen obendrein auch noch zu verklären: „Bloß um des Anschlusses willen dürfte man sich meines Erachtens nicht der bitteren Einsicht verschließen, daß wir uns einer lebensfähigeren, mehr Rechte und Freiheiten sichernden, aber im wesentlichen ungerechten Gesellschaft anschließen.“ Es ist das insistierende Gerechtigkeitsverlangen eines ungarischen Juden, der als Kind und Jugendlicher (Jg. 1931) erfahren hatte, was Ungleichheit sein kann.

Aber der zeitkritische Essay ist in unserem Fall eben ein Roman, und der fabuliert ganz schön. Die Geschichte spielt kurz vor der Wende von 1989. Wir befinden uns die ganze Zeit auf einer kleinen Donauinsel bei Budapest – schon wieder einem „geschlossenen Raum“ also, der ironischen Dopplung des totalitären Gefängnisses und des posttotalitären Regimes. „Erzsébet“, eine junge Journalistin, aus Ungarn nach Großbritannien ausgewandert, besucht den hierhin geflüchteten Dramatiker „Borsi“, um ihn für ein renommiertes Blatt über sein Gefängnisstück „Im geschlossenen Raum“ zu interviewen.

Auch diese beiden Figuren sind ironische Fiktionen – Abspaltungen des autobiografischen Ich-Erzählers, erfunden nur, um sich über die Kosten, die Schattenseiten des Widerstandes und der Unbeugsamkeit gehörig auslassen zu können: über die Egozentrik, die Selbstbeweihräucherung, die Verhärtung des Helden oder Märtyrers. Die junge Dame setzt dem alternden Autor, dessen Stück jetzt zum ersten Mal nach zwei Jahrzehnten Erfolglosigkeit aufgeführt worden ist – in Deutschland, in Berlin sogar, dermaßen respektlos, aber auch unbestechlich, hellsichtig zu, daß sogar den (männlichen) Leser einmal die Wut packen kann. Immerhin ist es ja das Pathos der Selbstbehauptung, der Integrität des Schriftstellers in einer Welt der Spitzel, der Zensur, der Gnade von oben, das sich hier dreist zur Disposition gestellt sieht.

Aber das täuscht. Es ist eine schonungslose Selbstprüfung, die da inszeniert wird. Und sie bleibt frei von Zynismus. Sie steht vielmehr im Zeichen der Freiheit, der Freiheit auch den eigenen Verletzungen gegenüber. Hinter dem mit allen Schikanen ausgefochtenen Match zwischen den Beiden auf der Insel steht eine existenzielle Frage des Autors István Eörsi selbst: Wer bin ich heute? Bin ich überhaupt noch offen für Neues, bin ich überhaupt noch produktiv, kann ich überhaupt noch schreiben? Oder bin ich nur noch ein ausgebrannter Veteran des Dissidententums? Und erzähle ich inzwischen immer die gleichen Geschichten – mögen sie noch so bitter und bezeichnend sein? Dann hätte der geschlossene Raum mich doch noch gekriegt - nachträglich.

Dieser Autor fürchtet das Pathos nicht. Aber es ist „ein Pathos gespickt mit Ironie“, wie er es anderswo einmal nennt. Unerwartet trifft der Leser auf Passagen von einem nicht mehr relativierten Ernst. Sie handeln davon, wie das staatlich organisierte Verbundsystem der geschlossenen Räume im Sozialismus den einzelnen Mensch angreift. Sogar auf ihn übergreift. Da mag sich einer dann so an seine Liebe krallen, daß er sie verliert.


István Eörsi (sprich: ischtwan örschi, Betonung auf der ersten Silbe).

István Eörsi, geboren 1931 in Budapest, freier Schriftsteller, Dramatiker und Essayist. Studium der ungarischen und englischen Literatur. Wegen Teilnahme am Aufstand 1956 verhaftet und zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. 1960, nach fast vierjähriger Haft, amnestiert. Veröffentlichte mehrere Gedichtbände, Kurzgeschichten, Theaterstücke und Essays, darunter 1997 "Meine Tage mit Gombrowicz"; "Hiob und Heine", 1999 und "Der rätselhafte Charme der Freiheit" 2003. Eörsi starb im Oktober 2005 in Budapest an Leukämie.

István Eörsi: Im geschlossenen Raum. Roman, Frankfurt am Main 2006 (Suhrkamp Verlag), Preis: 22,80 Euro
Klappentext

Aus dem Ungarischen von Heinrich Eisterer und mit einem Nachwort von György Konrád. – Ein ungarischer Schriftsteller, Alter ego des kämpferischen Moralisten Istvan Eörsi, gibt einer jungen Journalistin aus England bereitwillig Auskunft über sein Leben. Sie sitzen auf der Terrasse eines Sommerhauses auf einer kleinen Donauinsel unweit von Budapest, die nur mit der Fähre zu erreichen ist. Der Versuch, lästige Besucher aus der Vergangenheit abzuschütteln, scheitert - genauso wie das geplante Zeitungsinterview. Statt über sein einst verbotenes Theaterstück "Im geschlossenen Raum" spricht Eörsis Held über den Alltag in Zeiten der Diktatur, wo Spitzel und ihre Opfer, ehemals verfolgte Kommunisten und ihre Henker, im geschlossenen Raum der Gesellschaft miteinander auskommen müssen.

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