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Ernst Köhler

Romeo und Julia in Ex-Jugoslawien
Über den Roman „Meeresstille“ von Nicol Ljubic

Schon der „Prolog“ des neuen Romans des Berliner Journalisten und Autors Nicol Ljubic (geb. 1971 in Zagreb) stößt den Leser auf die reale Geschichte des verbrecherischen Krieges in Bosnien 1992 bis 1995. Und das ist etwas grundsätzlich Anderes als die heute eingefahrene Erinnerungspolitik, die sich nahezu ausschließlich auf „Srebrenica“, auf das dort im Sommer 1995 verübte Massaker an 8000 muslimischen Männern und Jungen beschränkt. In diesem Text geht es vielmehr um den bislang so gut wie ignorierten und auch offiziell-juristisch nicht anerkannten Völkermord an den bosnischen Muslimen in den Städten und Ortschaften entlang der Drina - zum Beispiel in Visegrad, dem gebildeten Publikum bekannt aus Ivo Andrics berühmtem Roman „Die Brücke über die Drina“. Ostbosnien war bereits lange vor dem allgemein bekannten, „historischen“ Verbrechen bei Srebrenica der Ort einer systematischen Ausrottung von Menschen. Diese Verbrechen serbischer Soldaten, Milizen, Banden gegen die Menschlichkeit setzen sofort mit Beginn des Krieges ein und haben tausenden Menschen, Zivilisten das Leben gekostet. Ahnungslosen, vom multiethnischen Mythos ihres Landes eingelullten Menschen, die mit dieser vernichtenden Gewalt niemals im Leben gerechnet hätten; Opfern, die bis heute – anders als die von Srebrenica - in unserem Geschichtsbild gar nicht vorkommen.

Und ausgerechnet eine Liebesgeschichte sollte gegen das Vergessen ankommen? Wäre sie ein geeignetes Medium oder Genre dafür? Nur, möchte man nach der Lektüre diese Romans hingerissen sagen, wenn der Autor das Können, die Integrität und die Imagination besitzt, die Liebe gnadenlos an der noch frischen dunklen Vergangenheit scheitern zu lassen. Die beiden jungen Leute begegnen und verlieben sich in Berlin. Er Doktorand der Geschichte, in Deutschland aufgewachsen, ohne alles Interesse für seine kroatische Herkunft; sie eine Stipendiatin und Gemanistikstudentin aus Belgrad. Die Konstellation ist brisant, die Spannung wird durch kein intimes Glück oder gemeinsames Naturerleben an der Ostsee aufgehoben: Robert, der ignorante, tumbe Deutsch-Kroate – ironisch auch noch angehender Historiker, an dem die jugoslawischen Kriege spurlos vorbeigegangen sind; Ana, die aus dem Machtzentrum des Krieges und der Zerstörung kommt und sich sehr bald an der schwer erträglichen Unbedarftheit ihres Geliebten zu reiben beginnt. Er wird in dieser allmählich entgleisenden Situation immer stürmischer, generöser, sie immer verhaltener und distanzierter, bis er sich schließlich eingestehen muss, dass seine Ana eine Unbekannte für ihn geblieben ist und ein bedrückendes Geheimnis mit sich herumschleppt.

Das mühselige, widerstrebende Erwachen des Spätentwicklers ist meisterhaft erzählt. Gerade die Ich-Form (auch die ebenfalls benutzte Er-Form ist hier eine reflexiv gebrochene Ich-Form) unterstreicht und pointiert die nachholende Reifung des jungen Mannes. Angesichts der sich vertiefenden Entfremdung, des sich abzeichnenden Bruchs mit seiner Freundin ringt er sich eine wachsende Aufmerksamkeit und Einfühlung für den Anderen und Andersartigen ab. Das Geheimnis und die quälende Last der jungen Frau aus Serbien ist die Verwicklung ihres Vaters, den sie über alles liebt und dessen Bild in ihrer Berliner Wohnung hängt, in ein Mordverbrechen in Visegrad 1992. An diesem kritischen Punkt bricht die Liebesgeschichte ab. Sie öffnet sich richtiger gesagt zur Geschichte einer längst überfälligen persönlichen Konfrontation mit der jugoslawischen Zeitgeschichte – nicht Ana’s freilich, die viel zu befangen, zu verletzt und auch zu ressentimentgeladen dafür ist, aber Roberts. Man kann auch sagen: Die Liebesgeschichte zeigt sich zuletzt als der Bildungsroman, der sie untergründig von Anfang an war. Robert fährt nach Den Haag, um dem Prozess gegen den Vater von Ana vor dem Kriegsverbrechertribunal beizuwohnen.


Nicol Ljubic: Meeresstille. Roman. Hamburg 2010. Hoffmann & Campe. 191 Seiten, 17 €.

Nicol Ljubic, 1971 in Zagreb geboren, ist als Sohn eines Flugzeugtechnikers in Schweden, Griechenland, Russland und Deutschland aufgewachsen. Er studierte Politikwissenschaften und arbeitet als freier Journalist und Autor. Er lebt in Berlin. Für seine Reportagen wurde er mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Theodor-Wolff-Preis. Meeresstille ist sein zweiter Roman. Für die Recherche wurde der Autor von der Robert Bosch Stiftung mit einem »Grenzgänger« Stipendium gefördert. Darüber hinaus wurde Nicol Ljubic für Meeresstille im März 2011 mit dem Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis der Robert-Bosch-Stiftung 2011 ausgezeichnet.

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