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Ernst Köhler
Totale Macht über den Menschen. „Ehrlich gesagt, bevor ich im Knast gewesen bin, hatte ich im Grunde keine Ahnung von Politik, bis heute habe ich keine nennenswerten reiferen politischen Ansichten. Ich bin Individualist, das Vagabundentum steckt mir noch im Blut, und nur als es zu einer dramatischen Kollision zwischen der Staatsideologie und meiner Eigenart als Dichter gekommen ist, blieb mir nichts anderes übrig, als mich zu wehren und sogar bis zur Selbstzerstörung Widerstand zu leisten. Ich kann keine Regierung akzeptieren, die aus Henkern besteht ... Ich bin jemand, der sich an seine Todfeinde erinnert ...“. Das sagt Liao Yiwu im Gefängnis einmal zu einem anderen politischen Gefangenen. Der Leser dieses Erfahrungsberichts aus chinesischen Gefängnisses in den 90er Jahren in der Phase unmittelbar nach dem Massaker vom 4.Juni 1989 in Peking kann es nur als Glücksfall empfinden, dass der Autor so bei sich selbst bleibt. Die hier vorgelegten Erinnerungen werden so zu einem persönlichen, intimen Zeugnis jenseits bloßer politischer Analyse und Aufklärungsabsicht. Es ist die reine Defensive gegen das Vergessen. Man kann dieses Werk nicht in einem Zug lesen. Was dieses Regime mit seinen Gefangenen macht, und was die Gefangenen mit sich selber machen, tritt hier in einer imaginativen Sprache vor uns. Sie arbeitet immer wieder mit einer expressiven oder visionären Bildhaftigkeit. Es ist die Verfremdung und Destruktion der gewohnten sachlichen Darstellung im Interesse der Annäherung an eine kaum vorstellbare Wirklichkeit. Liao Yiwu hat nicht aufgehört ein Dichter zu sein, als er nach der militärischen Repression der Studentenbewegung glaubt, künftig keine Gedichte mehr schreiben können. Wenn die Willkür der Staatsmacht, die Ungerechtigkeit der politischen Ordnung so heillos ist wie im China dieser Jahre, dann gerät für diese Sprachkunst auch der Kosmos aus den Fugen. Alles ist dann verkehrt, alles pervers. Der Himmel selbst driftet in ein unkontrollierbares Chaos ab. Für einen chinesischen Leser dürfte die übergreifende Verknüpfung der Unordnung auf der Erde und im Weltall vertrauter sein als für uns. Dabei ist es das China Deng Xiaopings und seiner im Westen bis heute hochgeschätzten Wirtschaftsreformen. Das jetzt in der literarisch kongenialen Übersetzung von Hans Peter Hoffmann vorliegende Buch von Liao Yiwu stößt uns auf die Gleichzeitigkeit von kapitalistischer Reform und totalitärer Machtsicherung der kommunistischen Partei. Dass der Text überhaupt zu uns gelangt ist von seinem Autor immer wieder versteckt, dreimal neu geschrieben, schließlich zuletzt nach Deutschland hinausgeschmuggelt, ist fast ein Wunder. Das Nebeneinander, die funktionale Verklammerung der beiden kommunistischen Strategien - Entfesselung der Wirtschaftskräfte, Abwürgen jeder Demokratisierung - war im Prinzip bekannt. Aber nur in der abstrakten, klischeehaften Form, wie sie uns schon unsere Interessenlage nahe legte. So ist etwa die bei Liao Yiwu dokumentierte tiefe Resonanz der protestierenden Studenten in der breiteren Bevölkerung bei uns kaum zur Kenntnis genommen worden. Es gab und gibt auch eine chinesische Spielart dieser Halbverdrängung und Gleichgültigkeit. Bei Liao Yiwu nimmt sie sich so aus: „Elf Jahre, eine Demokratiebewegung von gewaltigen Dimensionen hat sich in nichts aufgelöst, eine Seifenblase, die politischen Gefangenen ... bilden ein nicht gerade glorreiches Erbe der Gesellschaft und werden von der überwiegenden Mehrheit der Menschen, die dafür gelobt werden, ‚nicht zu viel nach Politik zu fragen’, abgelehnt von denselben, die sich einmal in Massen und begeistert in die Politik der Straße gestürzt haben!“ Das erste Kapitel des Buches („Es geschah am Ostfenster“) ist noch in einem anderen Ton gehalten. Das Volk in seiner Vielstimmigkeit ist hier noch präsent. Es ist noch nicht eine zynische, entpolitisierte Masse. Der Autor ist (formell) damals noch in Freiheit, wenn er sich wegen seiner im Land bald berühmten großen Gedichte „Massaker“ und „Requiem“ beide im Text dokumentiert - auch schon intensiv verfolgt sieht. Man bedauert etwas, dass die Einschübe über das jahrelange, schubhafte Schreiben an diesem Zeitdokument eher selten bleiben und in der Regel knapp ausfallen. Die mit dem zweiten Kapitel einsetzende dichte, sinnlich detaillierte Beschreibung der Qual der auf engstem Raum zusammengedrängten und oft zur Strafe auch noch an ihren Gliedmaßen gefesselten Gefangenen erdrückt diese Reflexion dann fast ganz. Erst im letzten Kapitel („Zur Umerziehung durch Arbeit“) öffnet sich der Text wieder dafür. Die Methodik der Entmenschung von Menschen, deren sich die chinesischen Kommunisten bedienen, ist aber auch unfassbar. Sie lassen die Gefangenen auf weite Strecken hin von Gefangenen verwalten, beherrschen, unterdrücken, foltern, fertig machen. Die eigentliche Macht über dieser „Selbstverwaltung“, über den Marionetten-Despotien in jeder einzelnen Zelle, bleibt in der Hinterhand. Abgesehen von den unvermeidlichen Großinszenierungen des totalen Machtanspruchs über den Menschen, greift „die Regierung“, wie die Gefangenen das Gefängnisestablishment nennen, mit ihren Elektroknüppeln oder ihren unsäglichen anderen Disziplinierungsverfahren meist nur im Fall des Konflikts oder Aufruhrs ein. Indirekte Verfahren der Herrschaftsausübung waren bekanntlich auch bei den Nazis in Gebrauch. Die chinesischen Machthaber können den Nazis durchaus das Wasser reichen. Sie sorgen dafür, dass in ihren Gefängnissen alles Böse, alle Verkommenheit, alle Infamie, das abgründige Rachebedürfnis einer uralten und niemals freien Gesellschaft zum Einsatz kommt. Es gibt trotz allem eine Grenze für diese von oben gesteuerte Selbstzerstörung. Das sind die „Toten“, wie im Jargon des Gefängnisses die zum Tode verurteilten Gefangenen bezeichnet werden. Wenn sie sich auf ihre Hinrichtung vorbereiten, können die Mechanismen des Kapo-Systems in der Zelle aussetzen und schweigen. Egal, wer dieser Todeskandidat ist und was er in seinem Leben getan hat und sei er auch ein brutaler Frauenmörder gewesen: jetzt hört man ihm zu, jetzt übernimmt man seine Arbeitsleistung, jetzt hilft man ihm beim Essen, wenn es sein muss. Liao Yiwu: Für ein Lied und hundert Lieder. Ein Zeugenbericht aus chinesischen Gefängnissen. Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann, Frankfurt am Main 2011 (S. Fischer Verlag), gebunden, 592 Seiten, 24,95 € |
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Liao Yiwu, geboren 1958 in der Provinz Sichuan, wuchs als Kind von Eltern „ohne dauerhafte Aufenthaltserlaubnis“ in der großen Hungersnot der 60er Jahre auf und schlug sich jahrelang mit verschiedensten Tagelöhner-Jobs und als Dichter durch. 1989 verfasste er das Gedicht „Massaker“, das in Windeseile Verbreitung fand, auch über die Grenzen Chinas hinaus. Hierfür wurde er vier Jahre inhaftiert und schwer misshandelt. 2007 wurde Liao Yiwu vom Unabhängigen Chinesischen PEN-Zentrum mit dem Preis „Freiheit zum Schreiben“ ausgezeichnet, dessen Verleihung in letzter Minute verhindert wurde. 2009 erschien auf Deutsch sein von Kritik und Publikum euphorisch begrüßtes Buch „Fräulein Hallo und der Bauerkaiser Chinas Gesellschaft von unten“, das Menschen vom Bodensatz der chinesischen Gesellschaft porträtiert und in China verboten ist.
(Text vom S. Fischer Verlag) |
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