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Ernst Köhler

„Immer sind ja die Wörter schöner als die Geschichte“
Über die neuen Gedichte von Peter Salomon

Die jetzt erschienenen neuen Gedichte von Peter Salomon weisen eine große Spannweite auf - der Themen, der Formen, der Tonlage. Die ungeniert auseinanderstrebende Fülle wird aber zusammengehalten durch ein immer präsentes, nie erschlaffendes Methodenbewusstsein. Es ist eine Methodik des Experimentierens, des Spiels mit dem Bruch von Klischees und Konventionen – verbrauchten Verfahren des Sehens, Denkens, Empfindens, Schreibens, die diese zentrifugalen Text-Potenzen bändigt und in einen Reigen einbindet. Es gibt kein Gedicht, das nicht die Spuren dieses Zugriffs, dieser destruktiven Arbeit an sich trüge. Peter Salomon gilt als ein Lyriker, der sich dem gegenwärtigen Alltag zuwendet – samt seiner Misere und Qual. Das sagt er auch selbst von sich – allerdings präziser, differenzierter, literarisch versierter wie etwa in der knappen autobiografischen Skizze Wie ich nach Konstanz gekommen bin und warum ich es nicht wieder verlassen habe (Autobiographische Fußnoten, 2009). Aber mögen auch alle die in dieser Lyrik reproduzierten Erinnerungen, Begegnungen, Beobachtungen, Gedanken, Befindlichkeiten einen realen, alltäglichen Anlass, Vorwurf oder Hintergrund haben, sie wirken ausnahmslos gebrochen. Sie sind alle verwandelt. Das Alltagsmaterial muss jeweils zerschlagen worden sein – zerstückelt, bevor es wieder zusammengefügt worden ist. Es sind Konstruktionen, die uns der Autor anbietet – realitätshaltig, erfahrungsgesättigt, sinnenhaft konkretisiert, aber mit Bruchlinien. Richtiger: weltnah, weil sie ihre Künstlichkeit nie vertuschen. Die in der Überschrift dieser Besprechung zitierte Zeile findet sich in dem Gedicht Aus dem Jahr 1978. Sie bringt die Arbeitsweise des Lyrikers Peter Salomon wie nebenbei auf den Punkt.


Das wäre etwa die Anemone, die erste Frühlingsblume im gerade aufgetauten Wald. Im gleichnamigen Gedicht von Gottfried Benn (1936) ist sie denn auch ein Erschütterer, der so leise wie mächtig die elementare Unaufhaltsamkeit des kommenden Sommers bekundet. Deshalb wird das Gedicht auch gern im Gymnasium gelesen. Das Gedicht In der Klinik in dem neuen Bändchen eher nicht. Es setzt schon ein mit den Zeilen: Dass eine Blume erschüttern kann – Habe ich nie geglaubt. Die Anemone steht dann nur auf dem Nachttisch – einfach so, ohne Bedeutungsschwere. Möglicherweise ist sie auch nur eine hundsordinäre Ringelblume. Der gleiche Sturzflug vom Erhabenen ins Profane in dem Gedicht Das Unaufhörliche, das - wie den wenigen Anmerkungen des Autors zu entnehmen ist - den Titel eines Oratoriums von Benn klaut (1931, von Paul Hindemith vertont). Nur die Überschrift, sonst nichts; denn im Oratorium ist „das Unaufhörliche“ ein Großes Gesetz, das irgendwie Welt und Erde und Menschheit durchwaltet – gnadenlos. Im Text von Peter Salomon gibt es hingegen nur Langeweile, Frust – den literarischen Überdruss an Konstanz als Gegenstand: Das was zu sehen ist, sind Platitüden. Und „unaufhörlich“ soll in diesem Elend nur der Schlaf sein, in den sich der Dichter flüchten möchte. Um nachts aus seinem Fenster nicht immer wieder das raffiniert illuminierte Münster sehen müssen. Ich möchte über all das nicht mehr schreiben.

Das ist nachzuvollziehen. Die Konstanz- und Bodensee-Gedichte können für die kantige Seite dieser Texte stehen – für ihren Berliner Biss gewissermaßen. Wenn es um die Touristen und die massenhaft einströmenden Käufer aus der Schweiz geht, können sie auch schon einmal in den halbvergessenen Agitprop-Ton verfallen, nur so gerade noch relativiert durch die Reimform. Charakteristischer aber der kühle Sarkasmus wie in Der müde Schwimmer. Der See ist schön – das viel besungene Wasser. Dagegen ist auch dieser hier nie restlos eingemeindete Asphalt-Schriftsteller anscheinend nicht immun. Aber dann bekommen die beliebten Lyrismen rund um den Bodensee einen lyrischen Kanthaken verpasst: Der See ist nicht sehr hilfreich bei Depressionen – Lieber Tabletten! Oder in Das Schlösschen am Rhein, eigentlich ein Sexgedicht. Gemeint ist der ehemalige Schlachthof am Seerhein, heute instandgesetzt wie ein Schlösschen, die Fachhochschulbibliothek. In den blutigen Zeiten, da hier das Schlachtvieh brüllte, war das abends oder sonntags eine ruhige Ecke. In der man ungestört seinen Freund fotografieren konnte – in allen möglichen reizvollen Posen: Wichsvorlagen für später. Leider vorbei - Konstanz, die geglättete, super-homogene, totsanierte Stadt, die der Homosexuelle schärfer wahrnimmt als andere. Vermutlich, weil er mehr unter ihr leidet.
Die Sexgedichte sind ein poetischer Höhepunkt der Sammlung. Kunst und Gegenstand kommen hier glücklich zusammen. Diese sich jeder Wende, jeder Verwirrung, jedem Verlust, jeder Trauer und Grenze öffnende, aussetzende Lyrik scheint wie geeicht auf das ruhelose, prekäre, riskante Sexualleben vieler Homosexueller. Wie in dem Gedicht Verbrecher, einem bitter-komischen Lamento des nicht nur einmal ausgeraubten Freiers. Nur mein Leben haben sie – Mir immer gelassen. Der Text schließt mit einer jener aparten, funkelnden Pointen, wie sie überhaupt zu den formalen Mitteln des Dichters zählen. Es gibt Diskretion, es gibt Takt, aber keine Furcht – keine vor der Offenheit, keine vor der Öffentlichkeit. Ein unernstes, simplifiziertes Bild dieser Sexualität ist hier undenkbar. Auch der Vorrang von hartem Sex, von hardcore-fun lässt Raum für Zuneigung und erlaubt den aufmerksamen, nuancierten, einfühlsamen Blick auf den anderen Menschen wie in Gezählte Tage, einem der schönsten Gedichte in dieser Sammlung überhaupt. In Veränderungswünsche tut sich eine ganze soziale Welt auf, die den meisten von uns verschlossen bleiben dürfte. Man könnte es die „anthropologische“ Neugier und Vorurteilslosigkeit dieser sexuellen Neigung nennen.

Und das Altern? Einige Gedichte thematisieren es direkt. Darunter Stücke von einer köstlichen Hypochondrie. Auch die Kindheitsgedichte über den wohlbehüteten, aber einsamen Jungen im feinen Grunewald-Milieu kann man zu den Altersgedichten rechnen. In Prosa und Lyrik des späten Peter Salomon gibt es so etwas wie einen heiter-melancholisch sprudelnden Fokus der Autobiografie. Die Jahre liegen auf der Lauer, der Titel der Sammlung, ist schließlich auch der Titel eines Gedichtes über den heranrückenden Tod. Im Volksmund, den man nicht mehr hören kann, ist es der Tod - als Sensenmann oder dergleichen - , der dir die Jahre nimmt. Hier sind es umgekehrt die Jahre, die dich killen. Wie Jäger auf ihrem Hochsitz die Hirsche abknallen Auf ihrem Weg zum Fleischbeschauer. Der Text hat mehr als nur einen Hauch von Expressionismus. Er trotzt der Lebenstrauer mit vulgärer Lustigkeit.


Peter Salomon, Die Jahre liegen auf der Lauer. Neue Gedichte, Paperback, 92 S., 12,-- € , Eggingen 2012 (Edition Klaus Isele)

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