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Buchbesprechung

Mihail Sebastian: Voller Entsetzen, aber nicht verzweifelt. Tagebücher 1935-44. Hrsg.: Edward Kanterian. Übersetzer: Roland Erb. Broschiert. 2006. 11,95 €

Die Tagebücher von Victor Klemperer sind wirklich gelesen worden – nebenher, nicht in den Ferien, in den Abendstunden, über Wochen. Das war ein Bild von der deutschen Gesellschaft unter Hitler, wie man es ungeachtet allen verbürgten Wissens doch immer noch gesucht hatte. Den jetzt auch auf deutsch vorliegenden Tagebüchern von Mihail Sebastian aus den Jahren 1935-44 wäre die gleiche Aufmerksamkeit zu wünschen. Das Rumänien der „Eisernen Garde“, der Diktatur des Generals Jon Antonescu, Südosteuropa im Schatten, unter dem Druck, dann unter der Kontrolle des „Dritten Reichs“ scheint einigermaßen entrückt - bereits nicht mehr ganz gegenwärtige Geschichte. Trotz des Holocausts, an dem Rumänien sich bekanntlich beflissen beteiligt hat - aber dieser Nexus ist zu dünn, zu schwach für ein Interesse an der konkreten, spezifischen Gesellschaft dahinter. Und wir kennen ja seit unserer Schulzeit auch „Die Nashörner“ von Eugène Jonesco - dem engen Freund und Leidensgenossen Mihail Sebastians, wie man hier erfährt - , das sollte reichen. Aber dieses Tagebuch ist keine zusätzliche Illustration für die im Schema oder auch in der parabelhaften Verdichtung längst begriffene Faschisierung eines Landes, einer politischen Öffentlichkeit, für die eigenartig reibungslose antisemitische Verseuchung einer ganzen Gesellschaft, vor allem ihrer Intelligenz. Es handelt sich hier vielmehr um ein Zeugnis, das so persönlich, so wahrhaftig, so furchtlos reflektiert ist, daß es sich jeder Schnellverwertung als Beleg oder „Quelle“ verweigert. Und es ist das Zeugnis eines Menschen - auch das unerwartet, um nicht zu sagen: fast unbegreiflich - , der sich in der Vereinsamung, in der Isolierung, in der Verfolgung nicht verhärtet; der sich auch im Leid nicht zu rigiden, verbitterten Urteilen über seine Umgebung versteht.

Was den glücklichen, von solchen Erfahrungen zeitgeschichtlich verschont gebliebenen Leser erstaunt, vielleicht auch befremdet, ist schon die Anhänglichkeit Mihail Sebastians (geb. 1907, mit bürgerlichem Namen : Josif Hechter) seinen Freunden in Publizistik, Literatur, Theater gegenüber. Denn diese Leute verwandeln sich etwa in der Mitte der 30er Jahre zum guten Teil in gemeine Antisemiten – rasch, umstandslos, bedenkenlos: darunter so illustre und später im Westen hochangesehene Größen wie Mircea Eliade oder Emil Cioran. (Vgl. das informative, wenn auch sehr verhaltene Vorwort des Herausgebers Edward Kanterian; auch die Anmerkungen und das sorgfältige Personenregister sind für den mit der Geistesgeschichte der rumänischen Zwischenkriegszeit wenig vertrauten Leser eine gewisse Hilfe.) Die Herren halten es nicht einmal für nötig, ihre dreiste Niedertracht vor ihrem jüdischen Freund und Kollegen irgendwie zu kaschieren. In ihrer heute geradezu lächerlich anmutenden Eitelkeit und Egomanie verletzen sie ihn ohne jede Scham. Mihail Sebastian seinerseits verdrängt nichts: nicht die gedankliche Verirrung, nicht die zwischenmenschliche Verrohung. Er dokumentiert fein und genau, was ihm da widerfährt. Nie flüchtet er sich in eine Schönfärberei im Dienste der Sentimentalität. Aber er verzögert das vernichtende Urteil. Er schiebt den definitiven Bruch hinaus – solange, bis es einfach nicht mehr geht. Erst dann zieht er sich zurück. Und an dem Dichter Camil Petrescu – diesen Aufzeichnungen nach zu schließen, einem der großmäuligsten Kannegießer der an dieser Spezies offenbar nicht gerade armen Bukarester Literatenszene – hält er auch dann noch fest. Vielleicht muß man hier von einer verzweifelten Beharrlichkeit oder Behutsamkeit sprechen. Es geht schließlich um nicht weniger als um die soziale Existenz des so Gedemütigten. Der Preis für dieses endlose Abwarten sind immer wieder neue Verletzungen. Der Preis ist eine immer tiefere, immer wieder neu genährte Traurigkeit. Der Ertrag (für uns) ist freilich auch sehr groß: ein unvergleichlich genaues, gewissermaßen molekulares Bild von der Verkommenheit dieses Milieus. Und weil Mihail Sebastian sich soviel Zeit läßt mit der Trennung von seinen dem Zeitgeist so sklavisch ergebenen Bekannten – von einem Nae Jonescu etwa, Philosophieprofessor, Herausgeber der Zeitung „Cuvantel“ (Das Wort) und zunächst so etwas wie ein Mentor für ihn -, entwickelt er mit der Zeit ein luzides Verständnis für Strategien der Lüge und des faulen Selbstbetrugs überhaupt. Nach dem kläglichen Scheitern eines Putschversuches der „Gardisten“ im Januar 1941, bei dem weit über 100 Juden ermordet worden waren, notiert sich Sebastian etwa: „Die Menschen sind nie interessanter als in Momenten jäher politischer Umschwünge. Von einem Tag auf den anderen verleugnen sie sich, wechseln ihre Meinung oder mildern sie ab, geben Erklärungen ab, finden Gleichgesinnte, rechtfertigen sich, vergessen ihre Abneigungen, erinnern sich nur an das, was ihnen gerade ins Konzept paßt. Wäre diese plötzlichen Schwankungen noch von einem gewissen Zynismus begleitet, wäre sie noch zu ertragen. Aber der Dämon der Konsequenz zwingt die Menschen dazu, beweisen zu wollen, daß sie sowohl gestern, als sie noch zum alten Regime hielten, als auch heute, da sie sich ihm widersetzen, ‚im Prinzip’ dieselbe Position vertraten.“ (Eintrag vom 4.Februar 1941) Und vorher, als die Deutschen gerade dabei sind sein geliebtes Frankreich zu überwältigen, schreibt er einmal: „Fast überall wächst nicht nur die Angst vor den Deutschen, sondern anscheinend auch die Achtung, ja selbst die Sympathie für sie. ‚Die sind mit allen Wassern gewaschen!’ – Die Leute sind verblüfft, wo sie doch entsetzt sein müßten.“ (Eintrag vom 31.Mai 1940)

„Angst, Depression, bedrückende Einsamkeit. Trotz allem der Wille, sich nicht fallen zu lassen.“ Der Eintrag vom 9.April 1941 kennzeichnet noch am ehesten die Haltung des Tagebuch-Schreibers – besser vielleicht als das vom Herausgeber für den Titel des Buches gewählte Zitat „Voller Entsetzen, aber nicht verzweifelt“, das im Licht der Notate aus den für Mihail Sebastian schlimmsten Jahren 1941, 1942, 1943 allzu stoisch klingt. Rumänien hat sich wie man weiß mit Deutschland verbündet und übernimmt die rassistische Politik der Nazis bis hin zu systematischen Vernichtungsaktionen gegen die Juden in der Nord-Bukowina, in Bessarabien und in der Ukraine. Die Juden von Bukarest und im „Altreich“ bleiben (bis auf die von Jasi) zunächst davon wenigstens verschont. Die Vorbereitungen für ihre Deportation in die Vernichtungslager in Polen laufen aber bereits. Erst als das Kriegsglück der Deutschen sich wendet, sagt Antonescu sie aus nackten Opportunismus im allerletzten Moment ab. Mihail Sebastian muß damit rechnen, daß sein eigener Tod nicht mehr fern ist. Bei aller Angst versucht er zu arbeiten. Er entwirft Theaterstücke. Er liest in dieser bedrohlichen Situation die Werke von Shakespeare und Balzac. Er liest Thukydides. Ausnahmsweise gönnt er sich auch einmal ein Konzert. Inzwischen ist er völlig verarmt, er ringt um das tägliche Existenzminimum für sich und seine Familie. Dieser elende Kampf um das Notwendigste drückt ihn nieder, demoralisiert ihn, aber er lenkt ihn auch immer wieder ab. Vor allem aber ist es der für einen normalen Zivilisten (für einen jüdischen Zivilisten, dem man das Radio weggenommen hat!) kaum durchschaubare Kriegsverlauf, der ihn okkupiert und gedanklich über seine persönliche Misere hinausträgt. Und es ist paradoxerweise das Schicksal der rumänischen Juden, der osteuropäischen Juden, der europäischen Juden im Großen, das ihn daran hindert, ganz im eigenen Leid zu versinken. Seine Identität als Jude hat Mihail Sebastian nie verleugnet, aber jetzt wandelt sie sich grundlegend: „Auf einer sonnigen, sicheren und friedlichen Insel irgendwo im Ozean wäre es mir gleichgültig, ob ich Jude bin oder nicht. Aber hier und jetzt kann ich nichts anderes sein. Und ich will auch nichts anderes sein.“ (Eintrag vom 17.Dezember 1941)

Mihail Sebastian: „Voller Entsetzen, aber nicht verzweifelt“ .Tagebücher 1935-44, Berlin 2005 (Claassen), Broschiert 2006 (List)

Ernst Köhler


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