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Ernst Köhler

Epochenwechsel auf dem Balkan

Mit dem allzu Bekannten sollte man sich vorsehen. Wie mit dem „Balkan“, seiner ewig gestrigen Kleinstaaterei und seinen giftigen Nationalismen, die vielen sattsam, geradezu sprichwörtlich bekannt vorkommen. Aber es gibt einen neuen Balkan, und es wird Zeit, ihn zur Kenntnis zu nehmen. Die Epoche des Zerfalls, der blutigen Zerschlagung Jugoslawiens ist vollendet. Man kann es sich an Serbien verdeutlichen. Die Rückwärtsgewandtheit und Aussichtslosigkeit seiner Kosovo-Politik sind offensichtlich. Sie wirken inzwischen bizarr bis zur Lächerlichkeit – nicht erst seit dem Votum des Internationalen Gerichtshofes zur Unabhängigkeitserklärung des Kosovo Anfang 2008. Die weit und breit einzigartige nationalistische Verbissenheit des in Serbien immer noch vorherrschenden Meinungsklimas langweilt die Welt nur noch. Wenn ein Zoran Djindjic hätte weiterarbeiten dürfen, wäre das Land aus der selbstverordneten Sackgasse längst heraus. Ein anderer Fall ist freilich Bosnien. Wie tragisch erstarrt, ragt es bis auf weiteres als ein Überrest aus der alten Epoche der Staatszersetzung, der Massenvertreibung und des Völkermords in die neue Zeit hinein. Man kann nur hoffen, dass die EU und die USA Bosnien in dieser unmöglichen, qualvollen Exponiertheit nicht einfach stehen lassen.

Heute geht es in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens nicht mehr um Staatenbildung, nicht mehr um Grenzen. Es geht überall um den Aufbau einer lebbaren, erträglichen, sozialstaatlich wenigstens einigermaßen abgefederten kapitalistischen Gesellschaft - ohne Oligarchen, ohne die Macht und die Monopole der politischen Profiteure von gestern. Und es geht überall um die Durchsetzung einer unkorrupten Staatsverwaltung, einer unabhängigen Justiz, einer demokratischen Parteienkonkurrenz jenseits von Klientelismus und Beuteystem – auch in Serbien, wo Präsident Boris Tadic die aus der Ära Slobodan Milosevics ererbten Privilegien und Machtstrukturen in der Wirtschaft neuerdings nicht mehr einfach ignorieren kann. Auch im Serbien der nationalen Verblendung gibt es keinen gesellschaftlichen Stillstand. Das Land liegt in Europa. Es bewegt sich, es modernisiert sich, es „europäisiert“ sich. Wie alle anderen Länder der Region auch – und an der längst zu Asche verbrannten Ideologie seiner politischen Elite und seiner Orthodoxen Kirche vorbei.

Wer aber heute mit offenen Augen in das Kosovo reist, kann die neue Zeit und ihre vordinglichen, bedrängenden Prioritäten und Aufgaben direkt mit Händen greifen. Wenn der Besucher seinen Gesprächspartnern nur zuhört, wird er immer wieder einen wenig selbstbewussten, eingeschüchterten, sich nur mühsam aus alten Ohnmachtserfahrungen aufrichtenden albanischen Bürger wahrnehmen. Altmodisch könnte man von einem sich erst formierenden Citoyen sprechen. Man wird immer wieder Leuten begegnen, die unmissverständlich – wenn auch vielleicht gelegentlich nur flüsternd - auf Distanz zu den Helden von gestern gehen. Zu den Heroen des Krieges, der Guerilla und des Befreiungskampfes, die inzwischen zum guten Teil zu schamlos raffgierigen Herrenmenschen entartet sind. Aus Widerstandskämpfern zu Parasiten. Auf Distanz allerdings auch zur EU mitsamt ihrer Rechtstaatsmission, die nach allgemein verbreiteter Ansicht ihre Hausaufgaben bisher nicht gemacht hat und sich in ihrer Unterordnung unter eine gesellschaftspolitisch sterile, leere Stabilisierungspolitik wenig bis gar nicht von der unseligen UNMIK-Verwaltung unterscheidet. Die vom leitenden Staatsanwalt der EULEX-Mission im Frühjahr dieses Jahres veranlasste Untersuchung der Amtsräume und privaten Wohnungen eines unter dem Verdacht schwerster Korruption stehenden wichtigen Ministers der Regierung Thaci hat das ganze Land für einen Moment aufatmen und hoffen lassen. Angesichts der ausbleibenden politischen Konsequenzen, aber nur für einen Moment.

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